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Im Zentrum von Urs Lüthis konzeptueller Arbeit steht die condition humaine. Als er um 1970, im Kontext der politischen Jugend und eines dynamischen Kunstverständnisses, als fotografierender Selbstdarsteller ins Licht der Öffentlichkeit trat, hatte er bereits entschieden, nur noch Kunst zu machen, die mit ihm als Mensch zu tun hat. Lüthis legendäre Frühwerke, etwa Lüthi weint auch für Sie (1970), I’ll be your mirror (1972) oder You are not the only who is lonely (1974), sind allesamt inszenierte Fotografien, in denen Lüthi – verkleidet oder in Travestie – die Hauptrolle spielt. Das Konzept von «Rolle» ist in Lüthis Werk ausschlaggebend: Obwohl seine Werke direkt mit ihm als Individuum zu tun haben und seine eigenen Erfahrungen von zentraler Bedeutung für sein Werk sind, sieht sich Lüthi nicht als reiner Selbstdarsteller, sondern vielmehr als (schauspielernder) Stellvertreter für die menschliche Figur. Sich der Sprache des körperlich-mimischen Verhaltens sowie verschiedenster Tricks (Melancholie, Ironie und Humor) bedienend, vermag es Lüthi, innere Regungen nach aussen zu kehren und mittels Wiedererkennungswert auf allgemeinmenschliche Sehnsüchte zu verweisen.

Lüthis multimediales Werk, das neben der Fotografie schon bald Malerei, Performance, Installation und Skulptur umfasste, lebt nicht nur von seiner Menschlichkeit, sondern auch von der Ambivalenz, die wiederum gut zum Menschsein passt. Die Reibungen und Mehrdeutigkeiten äussern sich in seinem Werk sowohl in Bezug auf die Relation zwischen den Identitäten von Autor und Sujet (zwei Mal Lüthi) als auch im Hinblick auf die Differenzierung zwischen Simulation und Simulacrum. Letztere zwei Kategorien spielen einhergehend mit der fortschreitenden Digitalisierung und Technisierung unseres Lebens eine zunehmend wichtige Rolle in Lüthis Arbeit.

Die Ausstellung Superhuman bringt verschiedene Werke zusammen, die Bezug auf ein neues Schlüsselwerk Lüthis nehmen: Selfportrait (Tears) (2020). Das Werk besteht aus einer gefährlich lebensechten Imitation des Künstlers, die als Büste auf einem hohen Sockel ruht und traurig stille Tränen weint, die langsam die (Silikon-) Wangen hinunterkullern. Daneben steht ein passend grosser Flugkoffer, dessen multinationale Kleber auf Weltreise deuten. Der Weinende ist, wie Lüthi sagt, «ein Weltreisender in Sachen Tränen».¹ Four Selfportraits (Tears) (2020) und Selfportrait (Shame) (2021) sind Fotografien dieser hyperrealen Imitation: Erstere Werkserie besteht aus vier Porträts des weinenden Lüthi, das zweite Werk aus zwei überblendeten Fotos, die als Tableau vivant zeigen, wie sich Lüthis Gesicht (immer und immer wieder) rötet. Die Direktheit, mit der die beiden Werke intime Gefühlsregungen vermitteln, kombiniert mit deren Künstlichkeit – wir sind vom lebenden Referenten mehrfach entfernt –, ruft im Betrachter eine Gefühlsverwirrung hervor. Diese Ambivalenz ist auch enthalten im Titel der Ausstellung, in dem sich das Übermenschliche und das sehr Menschliche streiten.

Lüthi zufolge liegt «der bedeutungsvollste und kreativste Aspekt»seiner Arbeit in «der Ambivalenz als solcher».² Diese äussert sich auf vielfältige Art und Weise – durch Oberfläche und Tiefe, das Mittelbare und Unmittelbare, das Künstliche und Echte, das Einmalig-Besondere und Generisch-Allgemeine. Sie trägt auch wesentlich zur affektiven Stärke von Lüthis Arbeit bei. So hält uns der Künstler unter Beihilfe diverser Hilfsmittel – Verkleidungen, Travestie und nun auch hyperrealer Avatare – einen Spiegel vor, der deshalb so fesselnd und verstörend ist, weil wir ihn nie ganz aufklären können.


Giorgia von Albertini


¹ Urs Lüthi im Gespräch mit der Autorin, Mai 2021.
² Lea Vergine, Il corpo come linguaggio (La «Body-Art» e storie simili), Milano, Giampaolo Preardo, 1974, o.S.

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Exhibition
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Aemtlerstrasse 74
8003 Zürich
Switzerland

Artist(s)

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Urs Lüthi

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Windhager von Kaenel
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