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Jessica Dudziak, Hörner / Antlfinger, Ferhat Özgür, Daisy Riley

Kuratoren: Toni Stooss, Bern, und Ferhat Özgür, Istanbul.

Laufzeit der Videos täglich von 13:30 Uhr bis 24 Uhr. 

Sie sind von aussen kostenfrei in der REX Box, dem ehemaligen Kassenhaus, einzusehen.

 

Einführung im Saal REX 2: 7. Oktober um 18:30 Uhr 

Toni Stooss legt im Gespräch mit Ferhat Özgür den Fokus auf dessen Werk 

 

Der Eintritt ist frei / Platzkarte erforderlich (an der Abendkasse oder online erhältlich).

 

Konzept «Shifting Identities / Gleitende Identitäten» von Toni Stooss

 

Gesellschaftliche Utopien, Träume vom «Global Village» und Theorien vom «Ende der Geschichte», mit der Integration und Assimilation nicht-westlicher Kulturen, scheinen angesichts multipler Krisen und sich wandelnder globaler Machtverhältnisse endgültig gescheitert zu sein. Was können wir tun, was vermag die Kunst im Zeitalter von virtuellem «Second Life» und realen Kriegen und Migration zu schaffen, wie stellen sich angesichts des Wertewandels neue Identitäten her, ohne dass wir, dass die Künstler:innen ins Dystopische abgleiten?

 

Sowohl die Gender-Debatte mit ihren praktischen Auswirkungen wie auch die Problematik der Identitätsfindung dringen heute zunehmend in breite Gesellschaftskreise vor, während sich zumeist transmedial schaffende Künstler:innen schon vor vielen Jahren mit einzelnen Aspekten der zusammenhängenden Problemkreise befasst haben und heutige Kreative dies fortwährend tun. 

 

Das «abstract» zu einer im Oktober 2021 online erschienenen Arbeit mehrerer Autor:innen mit dem Titel «Getting Our Shift Together» scheint mit der Definition des «Identity shifts» wie zugeschnitten auf die sich mit dem umrissenen Themenkreis befassenden Videos: «The concept of identity shiftrefers to the process of self-transformation that is the result of intentional self-presentation in a mediated context.» Unter dieser Perspektive umfasst die zeitgenössische Videoproduktion multiple Ansätze, von der Dokumentation persönlicher Rollenspiele bis zum «Leben» als Avatar in digital erschaffenen Welten, im Metaverse, wobei das Performative gleichsam die allen gemeinsame Basis darstellt.

 

Ausgehend vom Begriffspaar der «Shifting Identities/Gleitende Identitäten» wurden für die REX Box ältere sowie in den letzten drei Jahren produzierte Videos von einem Künstler, zwei Künstlerinnen und einem Künstlerpaar ausgewählt, die sich dem Thema des Identitätswandels in kleinen Schritten, in visualisierten Gesten nähern, einmal witzig, ein andermal pathetisch formuliert. Sie reichen von der Aufzeichnung eines performativen Akts zivilen Ungehorsams über die Phantasie des «cross-species»-Zusammenlebens von Mensch und Tier, die poetische Reflexion einer modebewussten Drag-Queen und die Identitätsverschiebungen im Bereich heutiger «Fashion» bis hin zur Bildmetapher für die Auswirkungen heutiger Migration.

 

Videos und Künstler:innen

 

Ferhat Özgür

I am like this seven days of week, 2004

1:56 Min., mit Ton

 

In diesem frühen Video springt der nur mit einer Sonnenbrille «getarnte», Künstler während sieben Tagen überraschend auf je ein Auto, das vor dem Rotlicht einer Ampel in Ankara anhält. Er setzt die Füsse kurz auf dessen Kühlerhaube, springt wieder zu Boden und geht unbekümmert seines Weges. Keiner der wohl verblüfften Insassen der Autos, scheint merklich zu reagieren. Im wiederholten performativen Akt nimmt Özgür, der mit dem Titel des Videos behauptet, an sieben Wochentagen so zu sein, scheinbar die Rolle eines aggressiven und gleichzeitig sich selbst gefährdenden Protestierenden ein. Der sportliche Protagonist ist kein «Rebel without a cause», denn er weiss genau, was er tun will, auch wenn seine Sache bloss die eines im urbanen Verkehrssystem sinnlos erscheinenden Aktes ist.

 

Damit lädt der damals bereits unterrichtende Künstler einerseits dazu ein, mehrere im Kunstkontext relevante Fragen zu überdenken: Wo beginnt die Funktion der Kunst? Ist es wesentlich, jede Performance im Hinblick auf das Prinzip der Kausalität hin zu interpretieren? Inwieweit kann das Publikum Teil einer unbewussten Handlung sein? Andererseits verweist seine Aktion „nicht nur auf zivilen Ungehorsam und Grenzen der freien Meinungsäusserung, sondern auch auf dadaistische und surreale Absurdität in einem unterhaltsamen Spiel, bei dem der Künstler zum Jäger wird und die Autos dessen Opfer sind.“ (F. Özgür)

 

Hörner / Antlfinger

Lunch in a cross-species household, 2002

1:26 Min., mit Ton 

 

Für Ute Hörner und Mathias Antlfinger stehen seit Beginn ihrer Zusammenarbeit in den 1990erJahren kollaborative Prozesse im Zentrum der künstlerischen Arbeit, die in Skulpturen, Installationen und Videos von vielschichtigen Beziehungen zwischen Menschen, Tieren und Maschinen handeln. Tiere treten dabei als Individuen mit eigenen Interessen und Fähigkeiten auf, die sie gar selbst zu Künstlern werden lassen. Damit anerkennt und postuliert das Künstlerpaar die Untrennbarkeit und Interaktion von menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen. Hörner/Antlfinger verwenden dafür den Begriff der «cross-species». Die Tiere, vor allem die beiden über Jahre hinweg an und in ihrem Schaffen immer wieder anteilnehmenden afrikanischen Graupapageie Klara und Karl, werden dabei als Familienmitglieder und selbständig künstlerisch Arbeitende gesehen – bei aller Ernsthaftigkeit jedoch nie mit dem sogenannt Tierischen Ernst.

 

Ihr vor 20 Jahren geschaffenes «Lunch»-Video beschreibt das Paar ironisch: «Es ist Mittagszeit in der Patchworkfamilie. Menschliche und nichtmenschliche Mitglieder versammeln sich zur Zubereitung und zum Verzehr von dem, was als ausgewogene Hauptmahlzeit in vielen Haushalten auf dem Speiseplan steht.» Die zum Singsang von Antlfinger kochenden Künstler gerieren sich mit tierförmigen Hauben wie hybride Wesen, die Hähnchenkeulen zubereiten, essen und auch den beiden Papageien zum Fressen geben – den gefiederten Familienmitgliedern, die gleichsam ihre eigene Spezies verzehren. Dem kurzen Slapstick-artigen Video-Statement von Hörner/Antlfinger kommt im Rahmen ihrer Arbeit in den folgenden 20 Jahren durchaus eine ernsthafte Dimension zu – im Moment der Proklamierung des Anthropozäns, in dem der Mensch endgültig die den Planeten formende Kraft darstellt.

 

Ferhat Özgür

I can sing, 2008

7:00 Min., mit Ton

 

Özgür kommentiert zeitgenössische politische Realitäten in von Humor und Ironie durchdrungenen Rollenspielen, bei denen dem Sound eine tragende Funktion zukommt. Er beschäftigt sich dabei hauptsächlich mit der Beziehung der Einzelnen zur Gesellschaft und nutzt dabei einen «realen» Echoraum, in dem der Individualität in einer konservativen und oppressiven Umgebung Ausdruck verliehen wird. 

 

Das Video mit dem lapidaren Titel «I can sing» zeigt eine anatolische Frau mit Kopftuch, die vor der Kulisse des zeitgenössischen Ankaras mit Moscheen und monotonen Hochhäusern der sich ausweitenden Vorstadt steht. In verschiedene Gewänder und wechselnde Kopftücher gehüllt bewegen sich ihre Lippen synchron zum Soundtrack von Jeff Buckleys Coverversion des Leonard Cohen-Klassikers «Hallelujah». Das im Original eher ruhig und bedächtig vorgetragene Lied-Poem Buckleys wird durch ihre Gestik und expressive Mimik mit Inbrunst und Pathos erfüllt. Verfremdung im Brecht’schen Sinn wird dabei zum Bild und Ton prägenden Stilmittel. Die anatolische Frau, die vor der Stadtlandschaft als Muslima interpretiert wird, singt gleichsam ein modernes christliches Lied mit einer im Bildkontext androgyn klingenden Stimme. Im Wechsel mit den Aussenaufnahmen erscheint die singende Frau mit hellem Gewand und Kopftuch in einem golden glänzenden Raum wie das «tableau vivant» einer christlichen Ikone. Ihr persönliches Lamento kann einerseits als Klage über das Verschwinden kultureller Traditionen und wechselnder Identitäten im Zuge westlicher Homogenisierung gelesen werden, wobei die Minarette im Hintergrund wie Pfeilspitzen in die monotone Hochhausszenerie einzudringen scheinen. Andererseits scheint sich die Sängerin auch zu befreien, sind doch die Grenzen zwischen Islam und Christentum, türkischer Tradition und zunehmendem westlichem Einfluss schon seit Atatürks Regentschaft fliessend. Die «Hallelujah» singende Frau wird zur Verkörperung gesellschaftlicher Brüche und Veränderungen, wobei selbst die Dur-Tonart des christlichen Liedes die für die türkische Musik charakteristischen Moll-Töne verdrängt. Dem vor fünfzehn Jahren entstanden Video kommt heute im Zuge des zunehmenden politischen Islamismus und autoritärer Politik wiederum vermehrte Bedeutung zu.

 

Jessica Dudziak

Filter Collection, 2021

5:30 Min., mit Ton

 

Jessica Dudziak, die an der Strzemiński Academy of Art in Łódź Fashion Design studiert und, in ihren Kostümen, Masken, Fotos und Videos in verschiedene Rollen schlüpft und sich multiple Identitäten aneignet, zeichnet in «Filter Collection» eine Performance vor der Kamera auf. Sie befasst sich dabei «mit dem obsessiven Streben nach Verbesserung des Aussehens und der Modifizierung des Körpers in Übereistimmung mit den, oft vom männlichen Blick auferlegten Normen» (J.Dudziak). Indem sie ihre textilen Körperextensionen mit einer Nähmaschine produziert und sich damit «buchstäblich selbst zusammennäht», verweist sie ironisch auf eine (zum Scheitern verurteile) Maximierung des Körpers und Veränderung des Erscheinungsbildes durch exaltierte «Mode». Inspiration zur Produktion des Videos seien dabei «Instagram und Augmented Reality-Filter» gewesen – was immer dies für dessen Interpretation bedeuten mag…

 

Daisy Riley

Aftagapi: A Drag Queen’s poetic narrative, a series, 2021

4:24 Min., mit Ton

 

«Dieser Film war eine Teamarbeit, um die Komplexität von Drag und Identität zu erkunden. ‚Aftagapi‘ bedeutet im Griechischen ‚Ausdruck der Selbstliebe‘. Diesem Ausdruck ist unsere bewundernswerte Protagonistin Chai sorgfältig auf den Grund gegangen» schreibt Daisy Riley zu diesem «Porträt» der Drag-Queen Chai. Ihr queerer Star Chai hat auch den melancholischen Sprechgesang des Soundtracks geschrieben und eingespielt. 

 

Die Künstlerin bezeichnet sich selbst als Multi-Bindestrich-Kreative, eineiiger Zwilling, eine leidenschaftliche Feministin und eine Hälfte des Anti-Fast-Fashion-Kollektivs «Monozygotics» (eineiige Zwillinge), das sie zusammen mit ihrer Schwester betreibt. Mode und ihre multimediale Präsentation bestimmt auch das «poetische Narrativ» ihres kurzen Porträts von Chai, deren Styling sich an der Punkbewegung der 1980er Jahre orientiert. Im Fokus steht für Riley dabei nicht nur die selbstbewusste Metamorphose Chais, sondern auch der Einfluss der Drag-Szene auf die Mainstream Mode.

 

Ferhat Özgür

Border, 2023

6:11 Min., mit Ton

 

Seit den anhaltenden Kriegen in Syrien, den Konflikten im Nahen Osten und dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat die Türkei einen unglaublichen Zustrom von Einwanderern und Flüchtlingen erlebt. Anfang 2023 lebten in dem Land knapp 4 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende, davon vermutlich mehr als 1,6 Millionen im «Schmelztiegel» Istanbul. Als die Stadtverwaltung der Metropole während des Ramadan-Festes im April 2023 kostenlose öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stellte, strömten Tausende von Menschen auf die Strasse, um auf die historische Halbinsel des «europäischen» Teils Istanbuls zu gelangen. Die Kapazitäten der Strassenbahnen waren überfordert, der Autoverkehr grossenteils blockiert, die durchwegs mit Geschäften versehenen Unterführungen verstopft. Die Menschenmassen versuchten im Gedränge voranzukommen und die notorischen Schranken, welche die öffentlichen Verkehrsmittel über weite Strecken von den Strassen trennen, wurden zu gefährlichen Hindernissen, die es mit «Kind und Kegel» zu überwinden galt.

 

Durch eine statische Kamera, das Rückwärtsabspielen der Eingangssequenz und vor allem durch den Soundtrack, in dem der Originalton von typischen Soundeffekten einer kriegerischen Umgebung überlagert wird, suggerieren die Aufnahme das Chaos an jenen Grenzen, denen sich Flüchtende ausgesetzt sehen. Auch wenn die reale Menge weder erkennen lässt, wer die die einzelnen Menschen sind, noch woher sie kommen, nehmen sie im Kontext von Bildschnitt und Soundtrack «die Rolle von Emigrierenden an, von denen einige glücklich, andere besorgt sind, die ‚Grenze‘ zu überwinden» (F. Özgür)

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Infos

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REX Box im Kino REX Bern
Schwanengasse 9
3011 Bern
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