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Kunstschaffen im Jetzt — Drei Fragen an Dimitri de Perrot

Kunstbulletin: Welche Fragen hast Du am Anfang dieses neuen Jahres an die Kunst – an die Kunst allgemein und an Deine eigene?
Dimitri de Perrot: In meinen Arbeiten geht es im Kern immer wieder um das Phänomen des Hörens. Ich ziele dorthin, wo die Melodie des Gegenwärtigen spielt, weil dort Unglaubliches oder Magisches stattfinden kann. Ich möchte die Menschen mit meiner Arbeit für Momente entführen, sie einladen, ihre Sinne schärfen und neuen Möglichkeiten des Denkens oder auch des Handelns Raum zu geben. Zuhören braucht Zeit und eine innere Verfügbarkeit, die uns im Rausch der vielen Möglichkeiten heutzutage oft abhandenkommt. Ich frage mich immer wieder von Neuem, durch welche Situationen und über welche Grenzen sich ein lebendiges Ich zu einem ebenso lebendigen und vielleicht selbstverständlichen Wir wandelt? Wir brauchen meines Erachtens das Wir, um als heutige, «Welt bewohnende» Gesellschaft zu funktionieren, um den Herausforderungen unserer Zeit gegenüberstehen zu können – mit einem guten Gefühl für Mensch, Kultur und Natur.

Kunstbulletin: Was sind in Deinen Augen die grossen Herausforderungen für die Kunst beziehungsweise für Deine Kunst in den kommenden Monaten oder Jahren?
de Perrot: Oft stelle ich mir das Leben als eine grosse Improvisation vor. Improvisation bedeutet für mich die Kunst, dem gelebten Moment im Hier und Jetzt offen zu begegnen und gleichzeitig sich selbst zu bleiben. Es ist ein unendlicher Tanz von dem, was da ist, mit denen, die da sind. Doch wie frei bin ich gegenüber alledem, was mir täglich begegnet? Die Fähigkeit zu hören und zuzuhören ist, so denke ich, essenziell für jede Form des Zusammenseins und im weitesten Sinne sehe ich meine Arbeit als Beitrag und als gemeinsame Übungsplattform für ein friedfertiges und aufmerksames Dasein im Hier und Jetzt.

Kunstbulletin: Die Kunst ist ein wichtiger Resonanzraum. Gab es im letzten Jahr Momente, Begegnungen, Reaktionen, in denen Du das besonders stark wahrgenommen hast, aus denen Du auch Energie schöpfst fürs Weitermachen?
de Perrot: Im Frühling 2023 hatte ich eine Klanginstallation am Festival Archipel in Genf. An einem Sonntag gab es ein dichtes Programm von rund zehn aufeinanderfolgenden musikalischen Performances. Das Publikum bildete eine kleine Gemeinschaft, die von Mittag bis Mitternacht von einer zu anderen Performance wanderte. Der Grundzustand des gemeinsamen Hörens und die ausgedehnte Zeitdauer eines Tags mit mir unbekannten Menschen zu teilen, das war auch für mich überraschend verbindlich und verbindend und eine sehr wertvolle Erfahrung: Begegnungen sind Resonanzräume und Interessen sind Resonanzräume. Langweile ist ein Resonanzraum, der mir oft fehlt.

➔ Der Dialog war Teil einer Umfrage bei ausgewählten Schweizer Kunstschaffenden zur Stimmungslage Anfang 2024. Die Rückmeldungen aller beteiligten Künstler:innen sind in Auszügen im Kunstbulletin 1-2/2024 erschienen.

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