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Kunstschaffen im Jetzt — Drei Fragen an Latefa Wiersch

Kunstbulletin: Welche Fragen hast Du am Anfang dieses neuen Jahres an die Kunst – an die Kunst allgemein und an Deine eigene?
Latefa Wiersch: Ich mache mir Gedanken über Bubbles. Die Kunstszene kreist grundsätzlich sehr viel um sich selbst. Wir sehen unsere Haltungen und Ansichten in unserem eher akademischen Umfeld gespiegelt. Deshalb frage ich mich bei neuen Projekten oft: Für wen mache ich das? Welche Person möchte ich adressieren oder zumindest mitdenken, auch wenn ihr momentan der Zugang zur Kultur erschwert oder sogar unmöglich ist? Imaginiere ich zum Beispiel ein Schwarzes Publikum? Oder eines, das kein kunsthistorisches Vorwissen hat? Eines, das die Codes der Kunstszene nicht bereits in- und auswendig kennt? Eines, das ich schonen möchte, oder eines, das ich herausfordern will? Eines, das Ironie versteht?
Ich frage mich auch, wann die Kunstwelt sich emanzipieren wird. Wann sie sich von Hierarchien löst, den Geniekult in den Hintergrund treten lässt. Wann die Idee des teuer zu kaufenden Objekts keine übergeordnete Rolle mehr spielen wird. Wann wird es normal, dass künstlerische Arbeit entlohnt wird wie beispielsweise im Theater?

Kunstbulletin: Was sind in Deinen Augen die grossen Herausforderungen für die Kunst beziehungsweise für Deine Kunst in den kommenden Monaten oder Jahren?
Wiersch: Herausfordernd ist es, wach zu bleiben. Herausfordernd ist es nach wie vor, in der Kunst Kinder und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Herausfordernd ist es, dauerhaft für sich selbst und andere Sorge zu tragen in einem auf Konkurrenz basierenden Umfeld.
Herausfordernd wird es für mich wohl unweigerlich in absehbarer Zeit, noch als «junge» Künstlerin durchzugehen, die sich dank Förderungen finanzieren kann.
Eine grundsätzliche Herausforderung ist der (gesellschaftliche) Drang nach Statik, nach Kategorisierung, nach Sicherheit und altbewährten Mitteln. Wir leben oft in der Illusion, dass wir gut zurechtkommen, solange wir bestimmte Regeln befolgen. Es braucht sicher Vereinbarungen über gemeinsame Werte – etwa auf politischer Ebene die international gültigen Menschenrechte, die gerade in aller Munde sind –, aber es braucht auch Flexibilität und Perspektivwechsel, um die vereinbarten Regeln überhaupt zu verstehen und einhalten zu können. Die Versuchung, angesichts aller Schieflagen der Welt einen Pseudo-Halt in rechtskonservativen Werten zu finden und geopolitische und  klimatische Veränderungen zu ignorieren, ist gross.
Im übertragenen Sinne mache ich diese Beobachtung auch an meinem eigenen Arbeitsprozess: Am Anfang steht die Recherche, ich sammle Material, erarbeite ein Konzept, setze mir Spielregeln, versuche sie umzusetzen. Und dann kommt der Punkt, an dem das erreicht ist. Ab dann wird es wieder wichtig, loszulassen, unvorbereitet zu reagieren und neu auftauchenden Aspekten Raum zu geben. To let the magic happen …

Kunstbulletin: Die Kunst ist ein wichtiger Resonanzraum. Gab es im letzten Jahr Momente, Begegnungen, Reaktionen, in denen Du das besonders stark wahrgenommen hast, aus denen Du auch Energie schöpfst fürs Weitermachen?
Wiersch: Ich arbeite ehrlich gesagt oft aus einer Art Wut heraus. Ich sitze hier am Schreibtisch mit dem Laptop, während im Kongo die Gewalt erneut eskaliert und Millionen auf der Flucht sind, während in der Ukraine weitergekämpft wird, während die Natur weiterhin der menschenverursachten Katastrophe entgegenschlittert. Und während wir uns weiter polarisieren bezüglich des Kriegs in Nahost und abschreckenden Formen der Berichterstattung durch die Medien. Menschen mit Rassismuserfahrung sehen sich von der Politik oft nicht gehört oder repräsentiert. Sie empfinden sich nicht mehr als Teil unserer Gemeinschaft – wohin mit ihrem Schmerz?
Davon abgesehen: Für mich gab es 2023 einen kleinen Preisregen, was natürlich das
Ego stärkt ... Ich merke, dass ich mich mittlerweile etwas entspanne und freier arbeiten kann, mir künstlerisch mehr Experiment erlaube, weil ich den Zwang nicht mehr so stark spüre, mich beweisen zu müssen. Ich kann momentan von Förderungen leben, ohne viel nebenbei zu jobben – daran denk ich fast täglich: wie privilegiert ich bin. Ich schätze gerade vieles sehr: dass ich meiner Arbeit nachgehen kann, dass ich mit meinen Kindern oder Freund:innen sein kann, dass ich manchmal Zeit habe, gar nichts zu tun, dass es uns allen gut geht.

➔ Der Dialog war Teil einer Umfrage bei ausgewählten Schweizer Kunstschaffenden zur Stimmungslage Anfang 2024. Die Rückmeldungen aller beteiligten Künstler:innen sind in Auszügen im Kunstbulletin 1-2/2024 erschienen.

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