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GK Die Grundhaltung in diesem Werk ist eine klassische. Anordnung und Ausgewogenheit der Bestandteile sind bis ins Letzte bewusst, ohne in der Bedeutsamkeit zwischen Mensch und Architektur, Landschaft oder Gegenstand zu unterscheiden. Alles zeugt von tiefer Sorgfalt und wirkt doch nicht pedantisch. Es bringt die Kenntnis der spätmittelalterlichen Welt ebenso zum Ausdruck wie das Verständnis der Renaissance und bleibt trotz allem - im Gegensatz zu vielem seiner Zeit - in eigenem Sinne modern. Das Werk ist ein späteres Bild von Nicolas Poussin. Hierin hatte er sich von energischer Bewegung und heroischem Ausdruck abgewandt, etwas anderes schien ihn nun zu bewegen. Kürzlich entdeckte ich bei Braudel diese ebenso grosse wie einfache Aussage von ihm und bin ihr sehr zugetan: «Das Sujet bist du selbst.»

PM Ja, ein toller Satz.

GK Lassen wir den Gedanken walten und sprechen zunächst über seinen Hintergrund: Ist es vor allem die eigene Unabhängigkeit im Arbeiten, die zu solcher Erkenntnis führen kann?

PM Eher das eigene Bewusstsein, das du parallel zur verrichteten ­Arbeit erreichst. Auch Cézanne hat anders gemalt, als er noch jung war: wild, schwarz, heftige Sachen. Dann hat er sich immer mehr diszipliniert. Am Ende malte er mit den geringsten Mitteln alles, was man malen kann. Als andere noch Kreuzigungen zur Verfügung hatten, reichten ihm ein Tisch und ein paar Birnen, eine Landschaft.

GK Beide scheinen zumindest von gewissen Nöten oder Erwartungen ihrer Zeit befreit gewesen zu sein.

PM Frei zu sein, ist eine Illusion. Wenn du auf diese Art tätig bist, hast du Aufgaben. Die werden dir von der Gegenwart gestellt und betreffen die Zukunft, sind aber nicht privat. Wer sie nicht aufnimmt, ist neben der Zeit, dann sind alle Arbeiten langweilig.

GK Was braucht es, um sich diesen Aufgaben zu stellen: Motivation, Wissen, Talent?

PM Talent ist das eine. Die grosse Frage ist, wie Motivation und Auftrag von jedem selbst zu erbringen sind, die werden heute nicht mehr ­gestellt. Daran scheitern die meisten Talente: Sie haben keinen Inhalt und er wird ihnen auch nicht durch ein Bedürfnis der Gesellschaft gestiftet. Wilhelm Hausenstein hat über die italienischen Bildwerke geschrieben und festgestellt, dass jede Epoche gleich viel Talent hat. Aber eine eigene Gegenwärtigkeit zu vermögen, das ist es, was wir selbst leisten müssen.


GK Eine starke Verbindung von teils mythischer Vergangenheit und technischer Gegenwart beschreibt auch Carola Giedion-Welcker anhand der Arbeiten von Brancusi.

PM Ja, das obliegt jeder Kunst. Ohne eigene Transformation in die ­jeweilige, brisante Gegenwart geht nichts. Sie muss auch immer neu sein, da die Bedingungen immer andere sind. Alles beginnt aber in der Be­trachtung, die genau sein muss und schon viel mit Erklärung zu tun hat. Oskar Bätschmann hat das wunderbar beschrieben in seiner Einführung zu ­Michael Baxandalls Ursachen der Bilder.


GK Darin legt Baxandall auch den Unterschied dar zwischen der Frage nach dem «warum» im kausalen Sinn und einem Hinterfragen im Sinne von «wie es dazu kam». Sind Betrachten, Hinterfragen und Verstehen nicht auch schon wesentliche Teile des Entwerfens?


PM Wichtig ist, dass wir auch emotional etwas verstehen, nicht nur rational. Die Arbeiten müssen vom Inneren her kommen. Ich kann mich gut an den westlichen Seitenflügel des unschönen Gull-Anbaus an der ETH ­erinnern. Dort gab es eine Bibliothek mit Architekturbüchern, grossen langen Holztischen und Schränken mit Glasscheiben in den Türen. Du konntest die Bücher selbst herausnehmen, das war ein Luxus. Im Studium habe ich dort das allererste ganze Haus entworfen, keinen Umbau. Ich kenne noch genau meinen Gefühlszustand, ich bin recht eklektizistisch vorgegangen: ein bisschen hiervon, etwas davon, alles war von aussen her gesucht. Das habe ich nach einem bestimmten Ereignis vollkommen verloren, seither stammt alles von innen. Das ist der Hauptunterschied.

GK Darüber würde ich gerne noch sprechen. Zuvor aber etwas noch zum Entwurf: Lässt sich dieser überhaupt nach einer bestimmten Methode «erarbeiten»?


PM In dem Journal von Delacroix gibt es einen grossartigen Abschnitt zur Skizze. Dort schreibt er, dass du ein Bild im Grunde genommen nicht erarbeiten kannst. Fleiss, Können, hier anfangen, dort aufhören - das allein ergibt nie ein fertiges Bild. Eher verliert man sich noch in dem, was heute «Varianten» heisst. Aber die frühe Skizze, die Idee oder Vorstellung vom Ganzen, von Beginn an festgehalten, das ist es, was du brauchst, das ist dein Plan. Damit hast du auch eine Hierarchie und die kann dabei helfen, im Bild am Ende noch etwas von der Frische der Skizze zu haben.


GK Mit seiner Gesellschaft, den Interessen und Leidenschaften ­seiner Zeit, war Delacroix aber auch von einem endlosen Themenreichtum umgeben.

PM Natürlich entdecken wir heute keine exotischen Länder mehr, ­behandeln keinen Raub der Sabinerinnen oder Heldentod, keine Schlachten mehr. Stattdessen wird die Gesellschaft vom Konsum beherrscht und es fällt auf, dass kein Politiker darüber redet und keine einzige Partei zu den neuen Fragen auch neue Vorstellungen entwickelt. Aber ist denn die menschliche Figur oder die zwischenmenschliche Beziehung heute kein Thema mehr? In der Literatur wird das ständig behandelt und genauso hat Hans Josephsohn permanent Reliefs gemacht. Nur beschreibt es bei ihm kaum jemand. Er geht darin auf ganz persönliche, konkrete Sachen ein, wie etwa die Bedeutung der Lebenspartnerin. In seinem totalen Heimat­entzug ist die Lebenspartnerin für ihn existenziell gewesen. Es gibt keinen Bildhauer, der zuvor mit solchen Themen das Relief besetzen konnte. Wie ein Stillleben, das auch immer mehr ist als ein Stillleben. Oder die ­Badezimmerszenen bei Bonnard, bei denen es ebenso wenig darum geht, wie die Frau gebadet hat. Der Ansatz in deiner Arbeit kann dabei noch so gering sein, wenn er echt ist, wird er sich behaupten. Ein wunderbares Beispiel ist Morandi mit seinen wenigen paar Gegenständen. Diese hat er aber auf eine Weise gemalt, die auch sehr viel mit der Frage der Existenz zu tun hat.

GK Und auf eine Weise, die Fragen zu Präsenz, Leere und Spannung aufwirft, wie sie auch in der Architektur wiederzufinden sind.

PM Auch in der Architektur geht es vor allen Dingen um eine Haltung zum Leben. So wie diese unser Zusammenleben bestimmt, prägt sie auch unsere Gebäude, Räume und Städte. Im Privaten funktioniert die Wahrheitssuche anders. Aber gerade im Öffentlichen, wie in Geschichte und Politik, braucht es eine Struktur, sonst verliert man sich.

GK Aus dem Studium sind mir dazu vor allem zwei lehrreiche Fragen noch bestens in Erinnerung: «Begreifen Sie sich in Ihrem Glücklichsein als Teil einer Gemeinschaft oder nur als Sie selbst?» und «Ist es Gewohnheit oder eigene Überzeugung, die aus Ihnen spricht?».

PM Und die erste Frage hat mir nie jemand anders beantwortet als mit der Gesellschaft! Anderenfalls hätte ich auf dieser Grundlage auch den Entwurf besprochen. Die zweite hingegen hat viel mit dem zu tun, was wir vorhin Gegenwärtigkeit nannten.


GK Die gegenwärtige Architektur offenbart ein extremes Spektrum, das von abenteuerlichen Sonderformen auf der einen bis zu ­detailgetreuen Rekonstruktionen auf der anderen Seite reicht.

PM Beide Positionen interessieren mich nicht. Ich denke, dass sie letztlich scheitern werden, da sie keine Perspektiven eröffnen. Man kann weder auf die eine noch auf die andere Art Städte bauen. Es ist aber nicht nur der Rückgriff auf das 19. Jahrhundert, der veraltet ist, auch der übliche Bezug auf die Moderne ist «retro». Baxandall beschreibt das ­wunderbar in seinem Kapitel zu Picasso: Wenn man sich auf etwas bezieht, baut man auf etwas auf. Man arbeitet unter dem Einfluss der eigenen ­Notwendigkeiten und auf der Grundlage früherer Errungenschaften, die man in der eigenen Arbeit wieder in die Gegenwart bringt und damit noch wichtiger macht.

GK Könnte es sein, dass sowohl die schillernden Neuformungen als auch neue historistische Fassaden letztlich nur verschiedene Indizien für dieselbe Sehnsucht des Auges sind, nach einer ­bestimmten, stärkeren Beanspruchung?

PM Ich glaube schon, dass es eine Sehnsucht gibt. Man kann auch nicht über Generationen hinweg nur ein monochromes Bild anschauen. Das hat seine Heftigkeit gehabt, aber damals, in einer anderen Welt.
Ich mag die Architektur des Fin de Siècle überhaupt nicht, darum verstehe ich alle, die sich dagegen gewehrt haben. Vom Städtebau einmal abge­sehen, halte ich Mies van der Rohe und Le Corbusier für zwei Baukünstler ihrer Zeit, also im traditionellen Sinn; zusammen mit Chareau, der kaum etwas gebaut hat. Mies hatte nur wenige Elemente zur Verfügung, weniger geht nicht, aber daraus hat er das Maximale gemacht. Der Irrtum ist, dass man meint, man könne dort stehen bleiben oder sogar noch etwas wegnehmen. Mies hat auf Proportionen und Gliederungen beharrt und auch das Auge noch bestimmend geführt, selbst in einer lokalen Situation. Trotzdem muss man darauf schrittweise weiter aufbauen. Mit einem ­dermassen minimalen Sprachschatz kann man nicht immer weiterarbeiten.


GK Eigentlich machen es die gesprochenen Sprachen ja wunderbar vor. Jede Generation erlernt das Vorhandene, übernimmt den Grossteil und baut mit eigenen Einflüssen darauf auf, ohne gewisse Grundlagen wie die Grammatik in Frage zu stellen.

PM Genau, denn ohne diese würde auch keiner den anderen verstehen. Fremd sässen alle nebeneinander, ohne zu wissen, was der Nächste meint. Diesem Bild entspricht auch die heutige Architektur, der weite Teile ihrer Sprache abhanden gekommen sind. Aber nicht nur das Gebaute zeugt davon, auch die Art, wie über Architektur und Städtebau gesprochen wird. Kein Automechaniker dürfte sich in seinem Beruf erlauben, was sich manche Professoren und Denkmalpfleger an Unpräzision heute leisten können.

GK Das Sprechen erlernen wir ganz beiläufig, lange bevor wir wissen, was Sprache überhaupt ist. Warum verhält es sich mit dem Betrachten oder bildlichen Darstellen nicht genauso?

PM Weil es kein Lebensgefühl mehr ausdrücken muss und schon gar keine Lebensnotwendigkeit mehr ist. Früher gab es ja nicht nur die Malerei. Man hat Indigo-Tücher gefärbt, Schnitzereien gemacht, das sieht alles perfekt aus für mich, bis zum Aufkommen der Konsumgesellschaft. Die Bauern und Handwerker waren eben nicht auf Hawaii und hatten auch keinen Fernseher. Sie haben allen Reichtum und Stolz nach ihrem Lebens­gefühl vor Ort gebaut! Heute braucht man das nicht mehr und fühlt sich frei, wenn man ein Auto bewegen kann. Die ganzen Fähigkeiten des Auges haben wir zwar noch, aber sie liegen brach, erlahmt wie ein Muskel.

GK Und wie bei einem Muskel muss auch deren Gebrauch erst ver­anlasst werden, durch ein gewisses Begehren.

PM Natürlich, das ist auch beim Sprechen nicht anders. Wenn ich ganz klein bin und unbedingt ein «Glacé» will, bin ich beseelt von diesem Wunsch und ringe mir deshalb die so schwierigen Worte ab. So auch im Grossen: Es müssen unmittelbare Bedürfnisse bestehen, um ein Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen. Keine Hochschule oder sonst wer kann ohne sie etwas bewirken. Solche Bedürfnisse sind nun abgewandert. Auf eine Art sind wir als Architekten heute also Spezialisten, die etwas ­erhalten wollen, was vielleicht auch wieder kommt. Wer weiss.

GK Dass Architektur gar nicht in «speziell» und «profan» unterteilt werden muss, hat deine Lehre überzeugend vermittelt: Wir sahen die Villa Barbaro neben einem Bündner Bauernhaus, Cimabue ­neben einem unbekannten Steinmosaik, das Schloss Bothmar neben einer romanischen Kirche in Westfrankreich.

PM Weil all die Inhalte auch etwa gleich sind. Es gibt Bücher über wunderbare Appenzeller Votivmalerei. Wenn ich in einem Vortrag über Malewitsch sprechen sollte, würde ich auch Fritz Frischknecht zeigen, seinen Alpaufzug mit ein paar Ziegen und Kühen. Oder die sogenannte Leichtigkeit von Matisse: man merkt ihr einfach an, wie fürchterlich schwer sie erarbeitet worden ist. Diesem Leichten - in den Austern und so weiter - gingen braune, unglaubliche Schinken voraus, kein Mensch ­würde Matisse darin erkennen. Das ist wie mit den frühen Sachen von ­Cézanne. Meier-Graefe bezeichnet sie an einer Stelle als «schwarzen ­Barock». Mit «kindlich» und «leicht» hat das bei allen nichts zu tun. Da diese Berufe mit unserem kulturellen Grundverständnis heute nicht mehr ­verbunden sind, braucht es dafür ein eigenes Bewusstsein und Bildung.

GK Ähnlich wie Bewusstsein und Bildung verhalten sich bei Baxandall auch «Objekt» und «Begriff» zueinander. Der Begriff schärft die Wahrnehmung des Objekts, das Objekt spitzt die Bezugskraft des Wortes zu.


PM Es braucht halt immer beides. Im Studium wäre ich mit den Vorlesungen allein verloren gewesen, teils habe ich ja schon ihre Sprache nicht verstanden. Das Büchlein von der Bauphysiologie habe ich zwar noch, doch nur wegen der Tabelle mit den Massen. Über die würde ich aber ­einen Proportionsvortrag halten und Zeichnungen von Rembrandt zeigen, dann würden sie plötzlich auch real werden. Darum geht es ja, es muss ­lebendig sein, uns unmittelbar etwas angehen. Aber grundsätzlich war der geschützte Raum der Schule wichtig für mich während der fünf Jahre. Nur schon die Bibliothek war fantastisch, ich bin ja an einem Ort aufgewachsen, wo es nicht mal eine Bücherei gab. Zudem bestand natürlich der Austausch mit Olgiati und Josephsohn.

GK Könntest du etwas davon erzählen? Diese Erfahrungen waren ja sehr prägend für dich, viel wichtiger als die Hochschule.

PM Einmal hatte ich eine Italienreise unternommen. Für vierzehn Tage, um etwas zu verstehen. Atmosphären und Stimmungen konnte ich schon begreifen, aber die Frage war ja, wie stellt man sie her. Für gewisse Dinge hatte ich dabei tiefe Verachtung empfunden, weil sie meiner menschlichen Vorstellung nicht entsprachen, und andere habe ich geliebt. Nicht gemocht oder schön gefunden, sondern geliebt. Auf dem Rück-weg, ich hatte so einen alten Peugeot, den du immer mit Wasser befüllen musstest, bin ich in Flims vorbeigefahren. Ich dachte, ich schaue mir noch ein Haus an, von Olgiati. Und dann, pppack! Es ist nur diese eine Säule gewesen. Das war das Ereignis. In Italien hatte ich nichts wirklich be­griffen. Doch dieses archaische, elementare Ereignis, einfach diese Säule, wie sie da stand und was sie bedeutete für das Haus und in dieser Landschaft, das ist der erste Moment einer Erkenntnis gewesen. Dieselbe, von der auch Goethe schreibt und alle, denen bewusst ist, Wissen und ­Erkenntnis sind zwei verschiedene Dinge.

GK Woran könntest du sie noch beschreiben?

PM Giacometti wäre ein bekannter Fall. Er war unglaublich talentiert, so hat er früh an allem arbeiten können, was sozusagen gerade Mode war. Aber die Erkenntnis, was Bildhauerei ist, hat er erst später gehabt, bei der Beobachtung vis-a-vis eines Menschen, oder genauer, nur seines ­Gesichts. Aus dieser Erkenntnis heraus sind dann die figürlichen Arbeiten entstanden. Gebildet durch die Museen, kannte er auch die etruskische Stele und weil er aus dem menschlichen Körper allein noch nicht so viel gewinnen konnte, hat er es verstanden, ihn zu verbinden mit diesem wun­derbaren Sockel und Fuss, den er erfunden hat.

GK Die akademische Lehre könnte hier einwenden, ebenso ­Wesentliches von der Säule zu verstehen.


PM Die Wissenschaften enthalten aber auch Richtiges und Falsches. Vor allem die Geschichtsschreibung ist mit kulturpolitischen Haltungen verbunden und mit gewissen Leidenschaften einer Zeit. Die archaische Säule zum Beispiel, die kenne ich. Sie ist auch mit Olgiati ins Spiel ge­kommen, wurde neu formuliert, sie habe ich auch selbst gebaut. Seit Längerem beschäftigt mich nun der Schaft. Nicht jener der archaischen, sondern der von den anderen Säulen, den eleganten, die dann von den Römern und über zweitausend Jahre hinweg immer wieder verwendet wurden. Die älteste, die ich gesehen habe, noch vor denen der römischen Städte in Lydien, ist die im altpersischen Pasargadae. Woher kommt diese Figur? Wer hat sie das erste Mal gebaut? In griechischen Bauwerken habe ich sie nie so abgebildet gesehen. Seit ich dieser Frage nachgehe, erfahre ich so einiges. Das meiste, was geschrieben wird, geht von einer neuhumanistischen Gedankenwelt aus, die sich nur auf griechische Quellen abstützt. Nun waren die Griechen ja chauvinistisch genug, sich selbst in einem besseren Licht darzustellen als die Perser, die relevante Konkurrenten ­waren. Dass die Dorer von der dalmatinischen Küste und aus Albanien eingewandert sind, hatte ich lange Zeit nicht gewusst. Im Grunde müssten all die Neuhumanisten heutzutage Flüchtlinge allein schon deshalb willkommen heissen, weil sie neue gute Dinge bringen. In Athen gab es ­per­sische Mode, die Berater waren international, das hatte ich alles nicht erfahren. Es gibt sogar Vermutungen, dass der Städtebau von Persepolis der Akropolis als Vorbild diente. Ich habe viele Vorlesungen an der ETH besucht, doch von so etwas habe ich nie gehört.

GK Architektur können wir einerseits als «Quelle» verstehen, wie ­Bücher, durch die wir etwas erfahren. Andererseits ist sie aber immer auch «Überrest», der nie abgeschrieben oder versetzt wurde.

PM Und wenn du anhand solcher Überreste einer Frage richtig ­nachgehst, gewinnst du unter Umständen einen Eindruck, wie Bücher geschrieben und Meinungen gebildet werden. Das geschieht auf eine Art, die dich die heutige Politik und Fragen zur Gesellschaft anders betrachten lässt. Danach lernst du einen Vorgang neu kennen und traust ihm nicht mehr unmittelbar, sondern liest dazu etwas von der einen wie von der anderen Seite und versuchst dir ein Bild zu machen, aber ein eigenes. Das ist die Substanz, die den Studenten zu vermitteln wäre: Ihr müsst frei werden, ihr müsst eigen werden, und vertraut euren Gefühlen! Kant beschreibt das auch, wie mir meine Tochter erzählt hat: Die sinnliche Erfahrung ist ­neben der geistigen Erfassung gleichermassen notwendig für Erkenntnis.

GK Also dient das Auge dem Erkenntnisgewinn auch auf direktem Wege?

PM Über das Auge verstehen wir anders. Gerade in Auseinandersetzungen über Architektur gehe ich keine Ideen mehr anschauen. Ich will nur Formen sehen. Über Form Geist erfahren. Es geht darum, Aussagen in die eigene Sprache zu übersetzen. Also muss indirekt mitgeteilt werden, was die Haltung der anderen Person ist. Es ist wie mit dem Sprechen über Landschaft bei Baxandall: Wenn man schreibt, «Es gibt ein Haus, zwei Bäume, einen Berg...», bilden Nordländer eine ganz andere Vorstellung als Osteuropäer oder Menschen aus dem Süden. Zur genauen Verständigung dient unserem Beruf deshalb die grammatikalische Ebene der Geometrie. Ein Kreis ist zunächst für alle ein Kreis. Durch Beschreibungen werden hingegen immer nur Erinnerungen projiziert, also das, was man selbst gesehen hat. Da ist die gesprochene Sprache machtlos.

GK Und auch langsamer...


PM Natürlich! Oft sind es nur Kleinigkeiten, die einen Entwurf plötzlich spannend machen. Hier etwas hinaufschieben, da etwas wegnehmen - das ist eben auch der Beruf. Sehr schnell sieht man etwas, was zuvor noch gar nicht denkbar war. Man wusste nur, das Haus ist irgendwie langweilig. Überlegungen führen zu gar nichts an Stellen, wo das Auge dominant sein muss.

GK Interessant ist, dass die Resultate solcher Arbeiten stellenweise als Erfindungen bezeichnet werden.


PM Ich kann das Wort nicht erklären, ich gebrauche es nie. Heute gehört es eher zum Bereich der technischen Entwicklungen - auch so ein Wort, das ich nicht verwende. Ist es eine Erfindung, wenn Galileo eine Beobachtung macht, die so spektakulär ist, dass er kaum glaubt, was er durch sein Fernrohr sieht, und es mit der Hand aufzeichnen muss, um sich selbst zu trauen? Oder was sagst du, wenn du am Morgen auf einer Reise früh erwachst und noch im Halbschlaf entsteht eine Skizze, in der später ein Freund etwas sieht, und dann erkennst auch du darin ein Haus wieder? Das ist keine Erfindung. Das sind Ablagerungen von Beobachtungen und Arbeit, das geht immer weiter, irgendwann bricht eine ­Vorstellung durch und dann ist etwas da. Ist es nicht eher eine Geburt?


GK Oder eine Enthüllung? So beschreibt Vittorio Lampugnani in ­seinem Essay «Die schwierige Leichtigkeit» den künstlerischen Schaffensprozess.


PM In meinen Augen enthält die Kunst sehr viele Erfindungen, man darf es nur nicht so sagen, da man heute etwas komplett anderes darunter versteht. Sicher war das Wort um 1850 bei Flaubert noch anders belegt. Heute reden wir vielleicht eher von Vorstellung oder Idee. Solche Auffassungen haben immer viel mit dem Leben zu tun und damit, was eine Zeit gerade vermittelt. Es hat Epochen gegeben, die hatten ungeheuren Respekt vor Erfindungen im damaligen Sinne. Jedem leuchtete sofort ein: Genau das fehlt uns. Über die Ölfarben von Jan van Eyck, zum Beispiel, wurde in ganz Italien geredet. Dort wollten sie auch dieses Kolorit, das sie mit ihrer Tempera nicht erreichten. Antonello da Messina hat dann auf einer Reise nach Paris von dem neuen Bindemittel erfahren. Spontan ist er van Eyck besuchen gegangen, wurde von ihm auch empfangen, sie wurden Freunde und er bekam die Technik vermittelt. So hat Antonello da Messina die Ölfarben nach ­Italien gebracht und alle Maler sind regelrecht aufgeblüht. Diese Begeisterung musst du dir etwa so vorstellen wie in dem Moment, als der Motor ins Spiel gekommen ist und keiner das Pferd mehr brauchte. Generelle Begeisterung! Keiner mäkelte an dem Motor ­herum oder meinte gar, «Das kann ich auch!». Eher noch im Gegenteil: Es gab unglaubliche Maler, die ihren Pinsel wegen eines anderen Werkes weglegten. Das ist natürlich nicht notwendig, aber ich habe grossen Respekt vor einer Zeit, in der die Leute in der Lage waren, so etwas zu be­urteilen.

GK Ein Vermögen, das sie auch in der Frage geeint zu haben scheint, was schön ist an ihren Gebäuden und Städten.

PM Sicher, weil sie auch eine Grundhaltung teilten. Es gibt keine Schönheit, ohne etwas, das hierarchisch höhersteht. Die Gültigkeit eines gemeinsamen Regelwerks ist auch nicht in der Baukunst selbst begründet, sondern in der übergeordneten Haltung der Verfasser. In der Architektur schätze ich derzeit nur wenige Arbeiten. Das ist keine Geschmacks­frage, sondern liegt daran, dass es den meisten an einer politischen Einstellung fehlt. Du siehst ihnen einfach an, welche Grundhaltung der Ar­chitekt vertritt. Etwa daran, wie das Gebäude kulturell eingebunden ist, wie es sich zum öffentlichen Raum verhält oder zur Landschaft.

GK Das erwähnte Haus von Olgiati wäre eine dieser wenigen Arbeiten.

PM Olgiati hat generell ein Nest gebaut. Jede Wohnung bietet in ­hohem Masse Geborgenheit und entspricht im ursprünglichen Sinn dem Wort «Nest». Das entsprach seinem Typ und war dort auch wichtig. Die Bauchungen, der Ausblick aus einem geschützten Raum, der Kamin, manchmal sogar das Sofa betoniert - unveränderlich! Und du sitzt dort, im Rücken Schutz, vor dir die Trichter-Ausblicke und dann diese Säule, um den Ort zu markieren in dem grossen Landschaftsraum, und sie ist so ­archaisch wie die Alphäuser selbst - das ist Olgiati in «Reinkultur»! Und es ist ein reines Nest im Sinne von geborgen, intim und geschützt sein. Es gibt keine höhere Kategorie.


GK Und trotz dieser Leidenschaft entwickelte sich dein Ausdruck stets unabhängig, wie auch schon erwähnt, «eigen».

PM Mir ist diese Welt zu definiert, ich bin nie dieser Typ gewesen. Ich wollte es etwas anders, ein wenig offener, ich war auch jünger. Aber ja, für mich ist dieser Bezug sehr wertvoll! Einmal hat Olgiati angerufen und gesagt: «Du Peter, ich weiss nicht. Ich habe da Säulen gebaut, ich glaube, die sind zu dünn. Komm doch mal schauen!» Dann haben wir das angeschaut, ich hab ihn beruhigt und gesagt, das sei schon gut. Umgekehrt ist er dann gekommen, wir sind zu dem Haus nach Winterthur gefahren, und hat gemeint: «Sehr schönes Haus! Aber du hättest es weiss anstreichen sollen.»

GK Hätte Olgiati je grösser bauen können?

PM Über diese Frage habe ich mit Josephsohn auch gesprochen. Mit ihm Olgiati anzuschauen, das war grossartig! Wir sprachen lange darüber, wie das Kleine toll ist und das Grössere schnell manieriert wirkt. ­Olgiatis Sprache ist in dem, was sie stark macht, an eine gewisse Grösse gebunden. Das hat mit den Ordnungen zu tun. Für Städtebau und grosse Häuser gibt es eine, für kleine Häuser zwei: die strukturierte, wie bei den grossen, und dazu die freie.


GK Warum dürfte es die freie Ordnung bei grossen Häusern eigentlich gar nicht geben?

PM Weil man Fenster über 100 Meter hinweg nicht einfach irgendwie anordnen kann, das wäre dumm. Der Markusplatz etwa wäre undenkbar mit einer freien Ordnung in den Fassaden der Längsseiten. Will man frei operieren, braucht es einen beschränkten Rahmen und man muss alle Teile auf einen Blick erfassen können. Man muss die Elemente kennen und sie müssen in einem Format eingespannt sein. Aber wenn der Überblick schon gegeben ist, gilt es auch mit strukturierten Bereichen aufzupassen. Bei dem grösseren der zwei Häuser in Trübbach zum Beispiel ist die Anzahl der Felder noch nicht hoch genug, um sie nicht mehr auf einen Blick zu erfassen. Auch darum braucht es die ungerade Zahl der fünf ­Säulen, da sonst ein zentrales Mittelfeld entstünde.

GK Also bedingen sich Dimension und Ordnung wechselseitig.


PM Ja, wie in allen Künsten. Morandi kann auch keine grossen Bilder malen, ähnlich ist es bei Cézanne. Seine Malerei endet bei einer gewissen Grösse. Man kann in grossen Formaten nicht alles dermassen beherrschen wollen, das wäre ein Widerspruch. Isaak Babel, dieser Mann aus Odessa, hat über seine Situation Mitte der 30er-Jahre gesagt, für ihn sei es nicht mehr denkbar, wie Tolstoi zu schreiben, ein grosses Epos aus einem Guss. Er könne nur kleine Stücke schreiben. Diese hat er dann aber 2mal umgeschrieben, bis alles messerscharf passte. Er beschreibt ja sehr kriegerisch, wie er einer Frau geholfen hat, Maupassant zu übersetzen. Wie dessen Wörter sich ballen, auffahren wie Armeen, und wie der Punkt ganz am Ende genau so gesetzt sein müsse, als sei er ein Messerstich ins Herz! Das ist doch gut, oder? Er hat das eben so gespürt. Und ich habe gespürt, dass ich Linien gern hab, unseren Beruf.

GK Hinter diesen Skizzen hier drüben vermute ich einen Prozess, wie du ihn bei den Erfindungen beschrieben hast. Ihr Sujet ist erkennbar, scheint aber nicht vorbestimmt gewesen zu sein. Sie ­geben die grosse Ordnung zu erkennen und zugleich einen ländlichen Kontext.


PM Solche Skizzen entstehen zwischendurch. Ohne genaue Über­legung. Den Städtebau machst du mit anderen Zeichnungen, da werden die Körper städtebaulich gesetzt und die Höhen bestimmt. Bei manchen Skizzen war mir dann nicht wohl, hier etwa, bei diesem Vertikalen, da bräuchte es Brüstungen. Du musst immer den Ort mitdenken. Wenn es in Mailand wäre und sozusagen «bürgerlich», würde ich eine Art von Renaissance-Hochhaus bauen, von unserer Zeit. Aber hier ist es ländlich, alles weit ausgestellt. Intensiv habe ich an den Grundrissen gearbeitet. Die Skizzen machst du so nebenbei, ohne bewusste Absicht.

GK Die Grundrisse erscheinen untypisch für ein Hochhaus.

PM Ja, normalerweise gibt es einen Korridor und irgendwo landet man in einem Hauptraum, dann folgen die Zimmer. Hier gibt es keinen Korridor, sondern nur diese Diagonale. Sie führt vom Zugang in das Eck, hier ist die Loggia und da die Küche. Die Loggia betrittst du diagonal. Im Prinzip ist es ein Grundriss wie bei einem Landhaus. Es trägt eine recht starke Geografie in sich. Der Entwurf geht inhaltlich auf den Bestand ein und berücksichtigt formell auch die Situation. Als eine Gleichgewichtsfigur verbindet er neue und bestehende Bauten. Durch die Raumbildung kommt es zu einem kurzen Aufbäumen des neuen Ortes und zu einer urbanen Ausstrahlung auf das Areal. In dieser Situation kann nicht einfach eine städtebauliche Typologie behauptet werden.

GK Nun sind die Häuser weit ausgestellt im grossen Landschaftsraum, das Programm ist aber nicht öffentlich. Wie gewährst du hierbei Geborgenheit?

PM Während der Weihnachtszeit, als ich sehr viel arbeiten konnte, bin ich einmal erwacht und habe das hier skizziert: all die liegenden Brüstungen erscheinen wie gestufte Dächlein, die dann hinaufführen in das ­Geschoss. Dort bist du intimisiert. Es gibt auch keine grossen Glasflächen, du kannst jeden Flügel öffnen. Ich möchte Drehzapfenbänder und einen bestimmten Beschlag. Mit dem kannst du zwei Flügel öffnen und den einen dann umfalten, das ist super. Nun gibt es diese Bänder nur für Holzfenster, für Metallfenster noch nicht. Darüber werde ich noch mit dem Hersteller sprechen. Das andere Problem bleibt aber: Die Beschläge werden ­bisher nur im privaten Bereich eingesetzt. Bei Mietwohnungen besteht die Sorge, das Flügelpaar könnte offen stehen bleiben und die Bänder zu stark belasten, dann wären sie in kürzester Zeit dahin. Mal schauen, was wir machen.

GK Nicht wenige Hochhäuser geniessen heute regelrechten Kult­status. Zunächst werden viele von ihnen jedoch oft abgelehnt. Warum?

PM Das Vorurteil gegenüber dem Hochhaus stammt aus dem Abgesichertsein im Einfamilienhausquartier. Mich wundert es auch nicht, dass sich gerade dort die Familientragödien abspielen, von denen man in der Zeitung liest. Doch man muss gar nicht in die Peripherie schauen. Schon an der Pfingstweidstrasse sind wir in einer bedenklichen Welt angekommen. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir lernen, dass Demo­kratie ein paar relevante Lebensformen nebeneinander zulässt. Ohne Wertung. Die Folge davon wäre aber eine andere Vorstellung von unseren Städten. Dann gäbe es nicht mehr ein paar Hochhäuser hie und da, sondern ein ganzes Quartier, aber ohne Zweistundenschatten. Zudem gäbe es ein anderes mit rekonstruierten Häusern, mir wäre das gleich, solange die Struktur stimmt. Ich vertraue dem Leben und darauf, dass über längere Sicht die guten und echten Teile genutzt werden.

GK Aus seinen Schriften über die Liebe zur Stadt schöpft Jacques Le Goff ebenso viel Optimismus und Vertrauen wie offenbar auch du. Ist es diese Verbindung, die selbst stärkere Veränderungen der Städte zulässt, ohne die Angst, gerade das Geliebte dabei zu verlieren?

PM Absolut, solang es gute Veränderungen sind. Wer sagt denn, wie wir unsere Städte bauen? Es gibt keine Vorstellung mehr von einem ge­sellschaftlichen Bürgertum, das die Welt beherrscht. Oder von einem Mittelalter, das die Stadt als Kunstgebilde erlebt, in dem sich jeder, ob er Geld hat oder nicht, aufgehoben fühlt, ein Recht hat und stolz darauf ist. Das gibt es alles nicht. Ich bin ein totaler Optimist, aber ich mache mir ­keine Illusionen. Wenn wir von unserem Beruf reden, haben wir heute einen absolut neuen Zustand, da können wir nichts vereinheitlichen. Es ist nur so: Du bist interessiert und machst etwas. Auf deine Art. Wenn du etwas baust, möchte ich aber, dass nicht nur dein Haus schön ist, sondern dass es auch die Umgebung stärkt. Das ist eben auch Städtebau. Da kannst du wie bei Piero della Francesca unter dem Mantel stehen, bei ­anderen Häusern, zum Schutz. Aber so verbal darüber zu reden, ist mir fast nicht möglich.

GK Gibt es überhaupt noch Teile der Stadt, die im Allgemeinen als ­gesichert gelten?


PM Schon das Allgemeine im Sinne des Normalen gibt es nicht mehr. Beiträge und Argumentationen, die darauf aufbauen, halte ich für un­seriös. Was wäre denn überhaupt noch gesichert heute? Nicht einmal eine Strasse, das Normalste der Welt, denn die Velofahrer möchten keine ­Stellplätze, manche wünschen sogar eine Begegnungszone, andere erwarten aber Senkrechtparkierung, und so weiter. Doch aus anderen ­Motiven, von politischer Natur, sage ich, die Strasse ist städtebaulich zu «schützen». Sie sichert das Nebeneinander und erzeugt Nachbarschaft. Kein ­einheitliches Fassadenbild wie in Paris, sondern die Häuser zusammenzubauen oder aufzureihen in einer Zeile, das ist der Gedanke. Alles was ich unter Sprache verstehe, muss Nachbarschaft ermöglichen und Abbild eines politisch organisierten Körpers sein. Wie die Häuser konkret aussehen sollen, liesse sich in einer Demokratie nicht einfordern, das wäre sinnlos. Aber die Struktur muss so gelegt sein, dass ein Umbau möglich ist.

GK Widerspiegeln einige Städte nicht weitgehend dieses Bild, wenn wir etwa in Zürich die Kreise 2, 4 und 6 betrachten?

PM Doch, sie zeugen von unterschiedlichen Vorstellungen und ihre Grundstruktur ist identisch, genau das ist erstrebenswert. Hier sind es einzelne Häuser, die aber nah beieinander stehen und Gärten bilden, da sind sie strassenbegleitend gebaut. Doch wenn an einem Waldrand, wie oben beim Radiostudio, jede Arealüberbauung eine andere geschwungene Form bekommt und sie nichts miteinander verbindet, ist das etwas grundsätzlich anderes. Selbst auf dem Zürichberg gibt es Freiräume, die alles miteinander vernetzen. Das ist die Krise, dieses Durcheinander: ­Arealüberbauung, Gestaltungskommission - und eins hat mit dem anderen nichts zu tun. Autistische Bebauungsweise, das ist ein Gräuel.

GK In Glarus-Nord wird so etwas nun kaum mehr möglich sein, durch ein neuartiges Baureglement, das erstaunlich wenig vorschreibt und erbaulich viel gewährt.


PM Es hilft auch zu bewahren, nämlich die Liebe der Menschen zu ­ihrem Lebensraum. In den historischen Dörfern stellt der Sockel ein wichtiges Element dar. Anstelle von Wohnungen im Erdgeschoss könnten dort die Autos stehen, die künftig im Haus untergebracht werden müssen. Die Strasse, die ein öffentlicher Raum ist, wird davon dann befreit. Zudem darf man bis zu einer maximalen Höhe bauen und nur einen bestimmten Anteil des Geländes verändern - das sind im Grunde die Bedingungen. Wie die übrigen Baureglemente aussehen, wissen wir ja. Aber wer weiss schon, ob ein Drittel Erkerlänge wirklich schöner ist als zwei Fünftel? Wer hat das eigentlich untersucht?

GK Es folgt wohl eher einer Art Kompromiss, einem Ausgleich im ­Mittelmass.

PM Ein Mittelmass, das der Durchschnitt ist von allem, muss man ­immer verachten. Lassen wir doch jede Lebenswelt unserer Tage zur ­eigenen Entfaltung kommen. Dann geben wir ihnen etwas Zeit und schauen, wo unsere Enkel leben und wie die Stadtquartiere sich entwickeln. Etwas ganz anderes ist es, eine Relativleistung zu achten. Wer damit nicht leben kann und meint, eine Sache noch besser machen zu müssen, um ­irgendwas darzustellen, ist ein Hochstapler. Doch Resultate von Leuten, die mit ihren eigenen Fähigkeiten viel geschafft haben, bewundere ich, auch wenn sie weniger gut sind.

GK Solche Auffassungen sind leider rar, selbst an den Zwischen- oder Schlusskritiken der Entwurfssemester.

PM Die Schlusskritiken in der Form, wie sie früher noch an der ETH stattfanden, sind inzwischen verboten worden. Offene Kojen, alle disku­tieren, du kannst umherlaufen und da ein wenig zuhören, dort etwas schauen - das war alles unglaublich attraktiv. Es sind ja selbst Besucher aus der Stadt gekommen, die gar nicht studiert hatten. Jetzt wird alles ­geopfert, das ist gar nicht zu verantworten. Das ganze Resultat der vielen Arbeit: Jeder hockt irgendwo in seinem Loch. Dabei war das doch das Schlussbouquet!


GK Wer weiss, mit dem richtigen, energischen Geist lässt sich ­vielleicht auch das noch einmal zurückgewinnen!

PM So viel weiss ich, gäbe es in der Stadt Zürich eine städtebauliche Frage, die sehr spannend ist und deren Antwort nicht auf der Hand liegt, würde ich sie sofort mit einem Semester untersuchen! Nach langer Zeit habe ich den Unterschied erkannt: Fünf eingeladene, ausgewählte Architekten führen zu einem guten Resultat. Das Semester hingegen bringt die Leute zufällig zusammen, unter ihnen viele gute, aber auch viele schlechte. Die schlechten Projekte und Auseinandersetzungen erhellen die Situation aber ebenso, auf eine andere Art. Dieser Diskurs - der auch grosse Verantwortung bedeutet, denn du darfst ja keine Fehler machen - ist die beste Untersuchung einer städtebaulichen Aufgabe. Dafür würde ich sofort noch ein Zwischensemester geben.

GK So führt uns dieser aussichtsreiche Moment auch wieder zu Poussin zurück, der ebenfalls im Diskurs die besten Möglichkeiten erkannte, um das Bewusstsein zu steigern und das Urteilsver­mögen zu schulen.

PM Ja, solange man sich daran beteiligen kann! Uns muss klar sein, wie privilegiert wir sind, gegenüber denen, die andere Arbeiten erledigen müssen. Da ist jedes Klagen unzulässig. Wir sind die Privilegierten und wer das nicht sowieso weiss, muss es sich jeden Tag sagen. Zudem darfst du auch den geschützten Raum nicht vergessen, in dem ich mich per­sönlich befunden habe. Vor allem dank einer Person, die ich schon seit ­langer Zeit kenne. Sie ist ein grosser Schutz und hat mir immer den ­Vorzug des Einfachen gestattet.

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