Unter dem Titel ‹Zeitbilder› präsentieren wir Werkbetrachtungen von Kuratorinnen und Kuratoren, die ein Kunstwerk ihrer Wahl vor dem Hintergrund der Corona-Krise neu lesen.
Curator’s Choice — Ich musste laut lachen, als ich ihn vor ein paar Wochen zum ersten Mal las: den Begriff «Social Distancing». Natürlich ist mir das Lachen nachhaltig im Hals steckengeblieben, und ich betreibe jetzt selbst Social Distancing, annähernd immer. Ich habe noch nicht ganz eingesehen, weshalb die Bezeichnung in Englisch sein muss. Dass die Massnahme allgemeiner verstanden wird, klar. Oder aus Mangel an Alternativen: «Soziale Distanznahme» oder «Gesellschaftliches Abstandwahren» – das tönt eher nach psychotischer Störung, und weniger wie etwas, das wir alle eifrig machen sollten.
Auf diesem Spannungsfeld – zwischen sozialer Störung und gesellschaftlichem Gebot, zwischen Individuum und Gemeinschaft – bewegt sich auch die Künstlerin Florence Jung. Ihre Einzelausstellung im Helmhaus Zürich handelt von Social Distancing. Natürlich nicht nur. Und natürlich haben wir das nicht gewusst, als wir die Ausstellung erarbeitet haben – weil wir den Begriff noch gar nicht kannten. Zum Beispiel die Arbeit ‹Jung54›: Sie zeigt das Maximum an Social Distancing auf. Es handelt sich um ein «Szenario» – das Medium, in dem Florence Jung arbeitet –, das sich an einem Stichtag exakt gleichzeitig in Zürich, Schweiz, und in Wellington, Neuseeland, abspielt (im Kontext unserer Ausstellung im Mai oder Juni 2020, je nachdem). Während die Performenden die Erdachse als soziale Distanz zwischen sich haben, tun sie – Globalisierung live – exakt das gleiche, je in einem Hotel der gleichen Kette. Um 8 Uhr duschen sie so heiss wie möglich, um 10 Uhr bestellen sie Pizza, und um 11 Uhr trinken beide, zusammen alleine, ein Bier – ein Corona. Als ich das letzthin wieder im Helmhaus-Lift gelesen habe, musste ich laut lachen – natürlich ist mir das Lachen im Hals steckengeblieben.
https://www.stadt-zuerich.ch/kultur/de/index/institutionen/helmhaus/Vorschau.html